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Jenseits der rigiden Zweigeschlechtlichkeit

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Prof. Dr. Nina Degele ist geschäftsführende Direktorin des Instituts für Soziologie der Universität Freiburg. In diesem Artikel greift sie das alltägliche Verständnis von Geschlecht auf, geht auf Situationen ein, an denen dieses Verständnis an seine Grenzen stößt und stellt die Frage, was gegen die Aufhebung der gesetzlichen Zwangsaufteilung in Männer und Frauen spricht.

Dass der Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit zu eng sein kann, um Menschen zu kategorisieren, weiß inzwischen nicht nur die Sportwelt: Der Fall der 800-Meter-Läuferin Caster Semenya hat der Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass die Zuordnung von Menschen zu Männern oder Frauen keineswegs immer eindeutig und gewaltfrei stattfindet. Nimmt man ethische Grundsätze beim Umgang mit Intersexualität ernst, sollte nicht die Festlegung auf männliche oder weibliche Menschen im Vordergrund stehen, sondern das Wohl des Kindes und des werdenden Erwachsenen. Deshalb gilt es, möglichst wenig irreversible Tatsachen zu schaffen, um dem Kind bzw. späteren Erwachsenen Entscheidungsspielräume (bis zum Erwachsenenalter) offen zu halten. Entscheidungen und Eingriffe sollten also auf Veränder- und Revidierbarkeit angelegt sein, denn Wissen, Präferenzen und Identitäten von Menschen ändern sich. Hinter diesen Überlegungen steht die Überzeugung, nicht unkritisch herrschende Geschlechter(stereotype) festzuschreiben, sondern Raum für Lebens- und Denkweisen jenseits der rigiden Zweigeschlechtlichkeit zu schaffen: Intersexuelle sollten sich selbst dafür entscheiden können, ob sie sich Männern, Frauen, anderen Geschlechtern oder gar keinem zurechnen lassen möchten. Dafür sollte ihnen die Möglichkeit gegeben werden.

Dieser Forderung stehen Lebenswirklichkeiten gegenüber, die auf Eindeutigkeit zielen (als Beispiele mögen binäre Sortierungen nach Geschlecht auf Toiletten, bei Antwortvorgaben in Fragebögen, im Sport oder in Kinderabteilungen von Kaufhäusern dienen) – was der Vielfalt jenseits sozialer Möglichkeiten von Geschlechterstereotypen nicht gerecht wird. Ein solcher Eindeutigkeitszwang setzt sich in der Antizipation von MedizinerInnen und Eltern fort, die seelische Schäden für Babys und Kinder befürchten, die nicht unzweideutig einem von zwei Geschlechtern zuzuordnen sind. Als Schäden werden sie indes vor allem deshalb wirksam, weil das Alltagswissen noch immer so wenig Raum für Lebensweisen jenseits der rigiden Zweigeschlechtlichkeit lässt. Solche scharf gezogenen Grenzen zu verflüssigen, stellte dagegen ein gemeinsames Unterfangen von MedizinerInnen, JuristInnen, EthikerInnen, unmittelbar und mittelbar Betroffenen dar.

Die im Rahmen der Ethik-Kommission geführten Auseinandersetzungen etwa eignen sich dazu, Normalitätsverständnisse zu erweitern. Was spricht dagegen, die gesetzliche Zwangszweiteilung aufzuheben und Geschlechtszugehörigkeiten öffentlich zu debattieren? Weiter könnte wissenschaftliche Autorität dafür eingesetzt werden, gesellschaftlichen Zweigeschlechtlichkeitszwängen entgegen zu treten statt sich Definitionsmacht über die Geschlechtszugehörigkeit anzumaßen. Die Betroffenen sollten ihre Geschlechtszugehörigkeit selbst entscheiden. Wissenschaftliche sowie gesellschaftliche Diskussionen, Weichenstellungen und Entscheidungen sollten darauf hinwirken, ihnen die Wahrnehmung dieses Selbstbestimmungsrechts zu ermöglichen.

 

Prof. Dr. Nina Degele ist geschäftsführende Direktorin des Instituts für Soziologie der Universität Freiburg. Mehr erfahren Sie hier.

 

Foto: flickr/ Simmo 1024


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